Colin Higgins

Harold und Maude

Plakat
Lässt sich mit 80 Jahren noch die Liebe finden? Und das ausgerechnet auf einem Friedhof? Können Leidenschaft und Zärtlichkeit Jahrzehnte zum Verschwinden bringen? Und: Ist es möglich, ohne Stromrechnungen und Grundbucheintrag zu wohnen?

Harold und Maude verzaubern mit ihrer Unschuld. Sie begeistern mit ihrer Lebensfreude. Und sie verunsichern mit ihrer Zielstrebigkeit.

Das legendäre Roadmovie macht Station:
Auf der Bühne des Kellertheaters!

Mitwirkende:

Maude:Brigitte Korn
Harold:Stefan Pescheck
Mrs Chasen:Volker Schneider
Pater Finnegan:Frank Reisser
Inspector Bernard:Volker Kehl
Dr Mathews:Kathrin Riede
Sylvie Gazel:Lena Janke
Nancy Mersch:Claudia Günther
Sunshine Doré:Monika Oschek, Ewgenija Weiß
Butler:Enrico Blümel, Florian Kemmerling
Friedhofsgärtnerin:Heike Reutzel
Sergeant Doppel:Heike Nietert, Judith Junk
Bauten:Bernhard Zarembowicz
Licht:Bernhard Zarembowicz
Kostüme:Ute Rasim
FotografieAnja Kühn
Regie:Stefan Militzer/Burkhard Sprenker
Premiere: 18. September 2009
weitere Aufführungen: 19./25./26. September, 2./3./30./31.Oktober, 6./7./13./14.November 2009
8./9./15./16. Januar, 5./6./12./13. Februar 2010
siehe auch den aktuellen Monatsplan

Dramaturgische Anmerkungen

von Stefan Militzer

Der Film

Mit »Harold und Maude« kam 1971 ein Film in die Kinos, dessen Atmosphäre ganz im Geiste seiner Zeit stand. Die beißende und nicht selten überschießende Gesellschaftskritik der späten 1960er Jahre hatte bereits ihren Optimismus verloren, verfolgte aber noch immer den anarchischen Wunsch, die sozialen Normen heftig durcheinander zu wirbeln. Allerdings waren die neuen gesellschaftlichen Ideale nicht mehr einfach unter das Schlagwort einer politischen Emanzipation zu bringen. Die hedonistischen Selbsterfahrungsexzesse aus San Franciscos Haight Ashbury des Jahres 1967 hatten sich in einer Sackgasse verrannt. Mit ihnen ließ sich weder der ersehnte Frieden in der Dritten Welt erreichen, noch erfüllten sie die Hoffnungen auf eine freiere Gesellschaft. Das blieb auch Colin Higgins, dem Autor von »Harold und Maude« nicht verborgen, der in demselben Jahr seinen Bachelor Abschluss in englischer Literatur an der nahen Stanford University in Palo Alto machte. Angeregt, aber nicht verführt von der aufkommenden New Age-Bewegung nahm Higgins buddhistische Gedanken in seine Geschichte auf, setzte den entscheidenden Akzent aber schließlich auf ein Ideal, das so schlicht wie bestechend als Menschlichkeit bezeichnet werden kann.

Politisch und ideologisch setzt sich das Drehbuch damit zwischen alle Stühle. Es verrät eine Unentschiedenheit, die nicht zuletzt auch den Reiz des Stoffes bis heute ausmacht. Auf der einen Seite werden die sozialen Autoritäten aus dem Lebens von Harold Chasen vorgeführt und bis ins Groteske verzerrt. Auf der anderen Seite ist es Maude aber nur gestattet, Harold zum Nachdenken und zum Fühlen anzuregen. Revolutionen schwört der Text ausdrücklich ab. Auch spirituelle Weltbilder treten weder als komplexe Erlösungsversprechen auf, noch spielen sie überhaupt eine Rolle, die über den allgemeinen Auftrag zur Selbstliebe und zum Respekt vor dem Leben hinausgeht. Die Lächerlichkeit, der die familiären (Mutter), gesellschaftlichen (Polizist), moralischen (Pater) und politischen (General) Autoritäten im Film ausgesetzt werden, wird also nicht durch eine konkrete Utopie angeregt oder gar in das Modell einer besseren Gesellschaft überführt. Die ideologische Skepsis, die der Film Harold und Maude damit offenbart, ist typisch für viele Spielfilme der 1970er Jahre - allen voran denen des New Hollywood-Kinos, zu dem der Film zurecht zählt.

Um das Burlesque des Films über das Komödiantische hinaus zu steigern, inszeniert Regisseur Hal Ashby die Geschichte teilweise im Genre eines Road Movies. Durch diesen Einfall wird die Geschichte einerseits thematisch aufgebrochen und um ein überraschendes, mit der Handlung nur mittelbar verbundenes Stilmittel ergänzt. Der Unterhaltungswert der Handlung gewinnt dadurch enorm. Das Element des Road Movies übernimmt aber weitere entscheidende Aufgaben im Film: So verbinden die wiederkehrenden Szenen in den Autos und auf den Motorrädern die episodischen Einzelszenen des Films, die zunächst weniger einen kohärenten Spannungsbogen aufbauen, sondern gleichsam rhapsodisch aus den Leben ihrer beiden Hauptfiguren erzählen. Sie bilden einen Rahmen für die Geschichte von Harold und Maude. Darüber hinaus versinnbildlichen die Szenen in den Fahrzeugen die Freiheit, von der Maude spricht, deren tatsächliche Verwirklichung die Zuschauerin aber nur selten zu Gesicht bekommt. Das Auto und der in ihm kondensierte Mythos der Ungebundenheit und der Selbstverwirklichung wird so zu einer entscheidenden Metapher der gesamten filmischen Umsetzung. Ihre mythische Funktion führt schließlich auch dazu, dass die Zuschauerin sich mit dem Freiheitsideal wie auch mit den Handlungen von Maude problemlos identifizieren kann. Die automobile Freiheitserfahrung wird nicht nur leicht verstanden, sie kann mit dem eigenen Auto auch leicht nacherlebt werden. Freilich: Dass eine Shoa-Überlebende, alte Frau ihre Freiheit im Symbol der ungebundenen Jugendlichkeit ausleben muss, mag eine unfreiwillige und bittere Ironie von Ashby sein. Der Attraktivität des Films hat sie alles andere als geschadet.

Die Herausforderungen für eine Theaterinszenierung

Eine Umsetzung von »Harold und Maude« auf der Theaterbühne kann sich an den dramaturgischen Mitteln des Film orientieren - kopieren kann sie sie freilich nicht. Insbesondere die Erfahrung eines Road Movies kann nicht ohne Probleme auf der Bühne reproduziert werden. Angesichts der tragenden Bedeutung des Fahrens für den Film, kann das Theaterstück damit entweder die Straße aus seinem Handlungsverlauf schlichtweg entfernen oder sie muss versuchen, deren dramaturgische Bedeutung anderweitig aufzufangen. Im ersten Fall liefe das Stück unvermeidlich Gefahr, die schillernde Oberflächlichkeit seiner grotesquen Charaktere nicht mehr durchdringen zu können und dadurch schnell langweilig zu werden. Entscheidet man sich deswegen für die zweite Option dann droht zweifellos das Risiko, sich vom Film und seinem inhaltlichen Kern zu entfernen. Allerdings kommt bald vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Films ohnehin keine Inszenierung um die Aufgabe herum, sich die Ideen, von denen Harold und Maude erzählen, eigenständig wieder anzueignen.

Die Inszenierung im Frankfurter Kellertheater hat sich dafür entschieden, zwei Aspekte des Stoffes besonders zu betonen und in ihren Mittelpunkt zu stellen. Zunächst schien die Überzeichnung der sozialen Autoritäten im Film - wie im Übrigen auch von Harold und Maude selbst - unter der Annahme zu stehen, diese Figuren trügen die volle Verantwortung für ihr Tun. Wer sie derart der Lächerlichkeit Preis gibt, der glaubt allzu sehr an ihre bewusste Verstrickung und ihre aktive Mitwirkung an der gesellschaftlichen Unterdrückung Andersdenkender, die im Film in einem spezifischen Sinn von Maude repräsentiert wird. Obwohl die spöttische Lust des Films darin besteht, alle Figuren außer Harold und Maude in ihrer Dummheit bloßzustellen und so ihre tatsächliche Verantwortungsfähigkeit zu konterkarieren, würde er sich nicht an diesen Rollen abarbeiten, wenn er nicht von ihrem Unterdrückungspotenzial überzeugt wäre. Auf die Frage, wie mit den gesellschaftspolitischen Annahmen des Originaltextes umzugehen sei, wurde im Kellertheater indes eine andere Antwort gefunden als sie der Film gibt. Jahrzehnte nach der Studentenrevolution und dem vielfach beschriebenen Marsch ihrer Protagonisten durch die Institutionen, erscheint es angemessener, die sozialen Autoritäten ihrerseits als Opfer der Regeln auftreten zu lassen, für deren Durchsetzung sie sich häufig wider besseres Wissen einsetzen. Die latente Unterstellung des Films, ohne die gesellschaftlichen Funktionsträger würde ein besseres Leben möglich sein, wird damit zurückgewiesen. An ihre Stelle setzt die Inszenierung die deutlich weniger optimistische Annahme, die scheinbaren Unterdrücker handelten einerseits nicht nur nach ursprünglich hehren Zielen, sondern sie litten andererseits auch selbst in ähnlichem Maße unter den von ihnen aufrecht erhaltenen Zwängen wie jene, die sich diesen Zwängen ausdrücklich widersetzten. Ohne die eventuelle Schuldfrage gänzlich ad absurdum zu führen, wird damit gegen die lustvolle Naivität des Films zunächst nur der Einwand erhoben, in den überkomplexen systemischen Zwängen der globalisierten Gegenwartsgesellschaft könne nicht mehr leichtfertig zwischen Opfern und Tätern unterschieden werden. Ohne diese neue Akzentsetzung würde die erfrischende Polarisierung aus dem Jahr 1971 andernfalls nur als verschämte Unverbesserlichkeit in das Jahr 2009 gerettet werden können. Dieser Versuchung wollte die Dramaturgie im Kellertheater jedoch widerstehen.

Die Nivellierung der charakterlichen Extreme des Films könnte nun freilich zu einer insgesamt konservativen Lesart des Stückes führen, in dem die Leben aller Figuren gleichsam schicksalhaft und untrennbar ineinander verstrickt sind. Für den individualistischen Charakterkopf Maude bliebe dann kaum mehr Raum für eine sinnvolle Opposition. Um dieser Tendenz entgegen zu wirken, setzt die Inszenierung in ihrem zweiten Schwerpunkt einen deutlich stärkeren Akzent auf die Liebe zwischen den Generationen. Der Film ringt bei diesem Thema sichtlich mit den Konventionen seiner Zeit. Eine ursprünglich enthaltene Bett-Szene hatte es zwar noch in den Trailer geschafft, wurde dann aber aus dem fertigen Film herausgeschnitten. Die körperliche Nähe seiner beiden Protagonisten steht indes auch quer zur Grotesque, die den Grundcharakter des Films ausmacht. Indem die Kellertheater-Inszenierung den parodistischen Tenor des Textes zurücknimmt, eröffnet sie sich die Möglichkeit, den auch im Jahr 2009 noch kontroversen Aspekt der - nicht zuletzt sexuellen - Liebe zweier Menschen herauszustreichen, deren Lebensalter viele Jahrzehnte trennt. Die sichtbare Nähe und die Zärtlichkeit, mit der sich Harold und Maude begegnen, wird deswegen auch nicht nur in der nun im Theater wieder dargestellten Bett-Szene deutlich, sondern durchzieht die gesamte Inszenierung wie ein emotionaler roter Faden. Mit der Liebe zwischen zwei so verschiedenen Menschen wie dem jugendlichen Harold und der alten Maude wird hier ein ganz lebenspraktisches Gegenmodell zur Unzufriedenheit und Einsamkeit vorgeschlagen, dem die tragischen Autoritätspersonen des Stückes ausgeliefert sind.

In einer dritten Hinsicht, dem von Maudes Alterssuizid, unterscheiden sich beide Bearbeitungen nicht grundlegend voneinander. Während der Tod im Film durch die vielfältigen und exzessiv ins Bild gestellten Selbstmordsimulationen von Harold präsent bleibt, geht die Kellertheater-Inszenierung hier zwar weniger bildstark vor. Sie entscheidet sich mit dem dauerhaft auf der Bühne befindlichen Sarg aber für eine ähnlich starke Betonung des Todesmotivs, das wie im Film das Geschehen die gesamte Zeit über prägt.

Die Dramaturgie der Inszenierung

Die drei von Colin Higgins angefertigten Textvorlagen von »Harold und Maude« gleichen sich - trotz aller Unterschiede insbesondere zwischen dem Film und dem Roman auf der einen Seite, dem Theaterstück auf der anderen Seite - darin, kurze Szenen nebeneinander zu setzen und damit einen momenthaften und situativen Rhythmus vorzugeben. Die schnellen Schnitte, die selbst noch in der Theaterfassung bestehen, verdanken sich dabei freilich dem Filmskript, das Higgins zuerst erarbeitet hatte. Ohne völlig voneinander losgelöst zu sein, müssen die Szenen aufgrund ihrer Anlage im Stück dennoch zunächst jeweils einen internen Spannungsbogen entwickeln, gegen den der generelle Spannungsbogen des gesamten Stückes in den Hintergrund tritt. Wo der Film jedoch die Automobil-Szenen zum verbindenden szenischen Moment der Gesamterzählung macht, dort musste die Inszenierung einen neuen Weg beschreiten. In ihr sind es das Bühnenbild und die Figur des Butlers, durch die eine Kontinuität zwischen den Orten wie auch den Charakteren des Stückes erzeugt wird. Allerdings stellen die in das Stück integrierten Wechsel zwischen den neunzehn Szenen nur eine formale Verbindung zwischen den Spielsituationen her. Sowohl ihre interne Entwicklung wie auch die Entwicklung des gesamten Stückes bleiben davon zunächst unberührt.

Dafür übernimmt die Figur des die Szenen wechselnden Butlers noch eine weitere Aufgabe, die der Idee des Films entgegenkommt, ohne freilich so in ihm selbst angelegt zu sein. Zunächst erscheint der Butler wie eine dem Stück fremde Figur, denn er bewegt sich nicht nur im Haushalt der Chasens, zu denen er gemäß der Dramatis Personae gehört. Vielmehr tritt er überall im Stück auf und übersteigt so den Realismus der übrigen Figuren. Damit rücken die Handlungen des Butlers jedoch in die Nähe von Berolt Brechts pädagogischem Theatermodell. Der Bulter übersteigt das Stück und bleibt doch ein Teil von ihm. Er macht - unterstützt von weiteren räumenden Figuen - den theatralischen Mechanismus sichtbar, der dem Stück, seinen Szenenwechseln und seinen Requisiten zugrundeliegt. Ganz wie im klassischen Modell des Epischen Theaters angelegt bricht der Butler, brechen die Szenenwechsel die Hermetik der Szenen auf. So wird der spielerische, nur inszenierte Charakter der Theateraufführung deutlich. Würde die Inszenierung allerdings bei dieser zunächst nur technischen Irritation verbleiben, hätte sie darauf ebenso gut verzichten können.

Im Kontext von »Harold und Maude« gewinnt die Irritation der überszenischen Figur jedoch einen viel weiter reichenden Sinn. Durch sie wird die Inszenierung nicht nur als solche sichtbar gemacht, um die Zuschauer zum Nachdenken darüber anzuregen, wie das Gezeigte sich zur tatsächlichen Welt verhält, zur Welt, in der die Zuschauer eben gerade die Zuschauer einer Theateraufführung sind. Die Figur des Butlers erinnert darüber hinaus an die Figur der Maude, die im Film wie auch im Theaterstück gleichsam aus dem Wirklichkeitshorizont ihrer Umwelt heraustritt und zu ihm eine parallele Ebene der reflektierten Wirklichkeit ins Spiel bringt. Aus der Wirkung der Maude-Figur heraus betrachtet, spiegelt der Butler die komödiantische Erscheinung, die Maude in der Welt des Stückes selbst abgibt. Allein, während Maude in ihren Handlungen auf die Geschichte des Stückes beschränkt bleibt, überschreitet der Butler diese Grenze und gibt sich als ein Schauspieler zu erkennen, zu dessen Aufgaben es zählt, die Bühnenbilder eines Theaterstücks zu arrangieren, das sich genau in diesem Moment in der Aufführung befindet. Der Butler verlängert also die Widerständigkeit und Spontaneität der Maude-Figur in die theatralische Inszenierung hinein und gibt ihr damit einen festen Platz im Ablauf des Stückes selbst.

Peter Huchels »Winterpsalm (Für Hans Mayer)«

Während sich die Inszenierung des Frankfurter Kellertheaters auf den ersten Blick dazu entschlossen hat, alle Hinweise auf Maudes Leiden in der Shoa zu vermeiden, wurde dennoch eine Szene geschaffen, in der eine Brücke zur Welt außerhalb des Stückes geschlagen wird. Tatsächlich wird in ihr auch auf die nationalsozialistischen Verbrechen Bezug genommen, denen die Maude-Figur des Films ausgesetzt ist. Die Darstellung nutzt jedoch weder einen direkten Verweis wie die im Film für einen kurzen Moment eingeblendete Auschwitzer Häftlingsnummer, noch wird die Shoa überhaupt angesprochen. Stattdessen ist einem Gedicht Peter Huchels die Aufgabe überantwortet, den Verbrechen des 20. Jahrhunderts einen Ort im Stück zu geben und damit auf die traumatischen Erfahrungen hinzuweisen, denen eine Figur wie Maude im Verlauf ihres langen Lebens direkt oder indirekt ausgesetzt war.

Huchel, einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts und lange Jahre Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form«, widmete seinen Text Hans Mayer, einem Literaturkritiker. Mayer, aufgrund seiner marxistischen Gesinnung, seiner jüdischen Wurzeln und seiner Homosexualität von den Nationalsozialisten verfolgt, floh 1933 zunächst nach Frankreich, später nach Genf, wo er als Emigrant den Krieg überlebte. Nach seiner anfänglichen Rückkehr in die amerikanische Besatzungszone, nahm er 1948 eine Professur für Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig an. Nach zunehmenden Auseinandersetzungen mit der Regierung kehrte er von einem Verlagsbesuch in Tübingen im Jahr 1963 nicht wieder in die DDR zurück. Mayer wurde 1965 Professor in Hannover und arbeitete nach seiner Emeritierung 1973 als Honorarprofessor in Tübingen. Er verstarb am 19. Mai 2001.

Das Gedicht »Winterpsalm« erschien erstmals in der letzten Ausgabe von »Sinn und Form« im Jahr 1962, bevor die Zeitschrift von der offiziellen Kulturpolitik der DDR eingestellt und ihr Chefredakteur geächtet wurde. Huchel findet - typisch für seine ebenso kulturkritische wie politische Naturlyrik - poetische Metaphern, deren starke Bildersprache mehrere Sinnebenen überspannt.

Winterpsalm

(Für Hans Mayer)

Da ging ich bei träger Kälte des Himmels
Und ging hinab die Straße zum Fluss,
Sah ich die Mulde im Schnee,
Wo nachts der Wind
Mit flacher Schulter gelegen.
Seine gebrechliche Stimme,
In den erstarrten Ästen oben,
Stieß sich am Trugbild weißer Luft.
»Alles Verscharrte blickt mich an.
Soll ich es heben aus dem Staub
Und zeigen dem Richter? Ich schweige.
Ich will nicht Zeuge sein.«
Sein Flüstern erlosch,
Von keiner Flamme genährt.

Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.

Ich stand auf der Brücke,
Allein vor der trägen Kälte des Himmels.
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
Der vereiste Fluß?

Die für die Inszenierung von »Harold und Maude« besonders relevante Sinnebene einer Reflexion über die Shoa lässt sich in mehreren Textzeilen nachweisen, die dann rekursiv die Winteratmosphäre als eine Metapher für die Leiden derjenigen deuten lassen, die den Verbrechen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Wenn es heißt »Seine gebrechliche Stimme, / In den erstarrten Ästen oben, / Stieß sich am Trugbild weißer Luft.«, dann kann die weiße Luft zwar zunächst als Nebel gedeutet werden, zur gleichen Zeit treten aber auch die Bilder rauchender Krematorien vor das geistige Augen. Von ihrem weißen Rauch werden die gebrechlichen Stimmen der Vergasten in den Himmel getragen, wo sie »ein Grab in den Lüften« finden, wie es in der 1945 entstandenen »Todesfuge« von Paul Celan heißt.

Auf die Situationsbeschreibung der ersten Strophe folgt ein Monolog, den Huchel dem Wind in den Mund legt, wie er in seiner Selbstinterpretation des Gedichtes im Jahr 1966 erläutert. Das darin angesprochene Thema der Zeugenschaft ist nun allerdings eines der zentralen Schwierigkeiten jeder Auseinandersetzung mit der Shoa. Und damit sind nicht einmal die zahlreichen Holocaustleugner bis in unsere Tage hinein gemeint. Das Problem drängt sich vielmehr aufgrund der Tatsache auf, dass die tatsächlichen Zeugen der Shoa zugleich ihre Opfer waren. Von den Schrecken der Gaskammern könnten nur diejenigen Zeugenschaft ablegen, die in ihnen ums Leben kamen. Dass es viele Überlebende als ihre Pflicht verstehen, über die an den europäischen Juden begangene Gräuel zu berichten und aufzuklären, bleibt vom Problem der Zeugenschaft indes unberührt.

»Vieler Wesen stumme Angst« und das Licht, das als einziges die Stelle der vernichteten Zeugen zu vertreten vermag, sind nun beide nicht nur symptomatisch für die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen. Die schreckliche Erfindung des Lagerssystems, das Menschen ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt, und dessen Terror zugleich abseits vom Leben des Alltags und unbeobachtet von den Menschen außerhalb des Lagers vor sich geht, hat nicht nur in Deutschland gewütet, sondern auch in der Sowjetunion, in Südamerika, in Kambodscha, jüngst wieder im ehemaligen Jugoslawien und in kleinerem Maßstab in unzähligen anderen rassistischen Konflikten. Wenn der Text Peter Huchels auf der Bühne gesprochen wird, dann öffnet sich die kleine Welt von »Harold und Maude« also nicht nur zur deutschen Vergangenheit. Durch die Szene wird vielmehr ein realgeschichtlicher Horizont zum Erscheinen gebracht, der das Leben von Maude geprägt hat und dessen Dimensionen nur angedeutet werden können. Indem Huchels Gedicht mit durchaus frohen und trotz aller Zweifel auch zukunftsoptimistischen Dialogen zwischen Harold und Maude verschränkt wird, spielt die Inszenierung zudem direkt auf Maudes Stärke an, die sich nicht nur trotz, sondern gerade auch wegen der Schicksalsschläge herausgebildet hat, von denen sie selbst uns kaum mehr als eine Ahnung gibt. Das Gedicht »Winterpsalm« darf so besehen nicht als ein modernekritischer Fatalismus missverstanden werden, der sich am Fanal von Auschwitz entzündet, sondern steht für die nötige Rückbindung einer Theaterhandlung an die Wirklichkeit, die trotz allen Klamauks der Geschichte von »Harold und Maude« überhaupt erst ihren tragischen Sinn verleiht.

Das Kellertheater wird unterstützt von der Stadt Frankfurt am Main (www.kultur-frankfurt.de)